Berlin liegt jetzt am Äquator. Doch die Sonne bleibt über dem Horizont stehen.
Anne berichtet: „Die Erde dreht sich von rechts nach links“
– Wenn sie sich vor dir dreht, welche Kontinente folgen einander, wo geht die Äquatorlinie entlang?“
England liegt jetzt auf dem Äquator, Frankreich, Italien, dann geht das so runter Türkei, Indien – so dreht sie sich.“
– Afrika ist jetzt nicht mehr auf dem Äquator?“
Nein. Es kann sein, dass es mehr Spanien ist, womit es links anfängt.
Jedenfalls liegt er jetzt höher. Auf Indien folgt Australien, dann kommt Wasser… (Pause) Ich krieg da wieder Land… es sieht aus wie Südamerika, aber ich glaub das nicht… das ist irgendwie verrutscht.“
– Danach kommt wieder Wasser?“
Ja. Und dann kommt Land, aber ich kann es nicht erkennen. Es ist hügelig. Kleiner als Europa. Dann kommt Europa, … ich glaube England.“
Könnte sich Anne einen neuen Äquator nicht einfach ausgedacht haben? Wer es für möglich hält, versuche, aus dem Gedächtnis den Verlauf des heutigen Äquators zu rekonstruieren!
Um herauszufinden, ob die hier aufgezählten Länder theoretisch auf einem – wenn auch veränderten – Äquator liegen könnten, habe ich einen Drahtring von der Länge des Äquators so über meinen Schreibtisch-Globus geschoben, dass der Ring besagten Ländern berührt.
Und siehe da, sie liegen tatsächlich alle auf einer Linie. Diese übertrug ich vom Globus auf eine plane Weltkarte; hier stellt sie sich als Sinuskurve dar.
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Nun versteht man auch, weshalb Anne unsicher wurde beim Anblick Südamerikas; wir sind gewohnt diesen Kontinent senkrecht zum Äquator liegen zu sehen. Zum neuen Äquator liegt er nun wie um 90° Grad gedreht, er liegt „irgendwie verrutscht“.
Der neue Nordpol läge dann auf den Aleuten in der Nähe der Behringstrasse. Der neue Südpol südlich von Südafrika, sie hätten sich um etwa 40 Breitengrade von ihrem heutigen Standort entfernt. Gabi berichtet, dass dort, wo sie war – und wir beide vermuten, dass es Neuseeland war – die Sonne etwa 80 Grad steil stand. Das passt gut in einem Land unter Äquatorsonne.
Es fällt schwer, diese Vorstellung zu akzeptieren. Dass sich die Erdachse zu unseren Lebzeiten verschieben könnten – eine groteske Idee! Doch wieso? Ist es nicht einfach nur unsere Gewohnheit, die uns diesen Gedanken verbietet? Geologen wissen, dass der Nordpol nicht immer an dem heutigen Platz befand. In Alaska, Sibirien und Spitzbergen fanden sie unter dem Eis eine Vegetation, die nur in gemäßigten oder warmen Gegenden gedeiht; der Nordpol muss damals woanders gelegen haben.
Auf Grund von Vegetationsfunden und der für äquatoriale Gegenden typischen, starken Verwitterung konnte man den Verlauf des Äquators in früheren Zeiten rekonstruieren. Aus der Karte von M. Kužvart und J. Konta („Kaolin and laterite weathering crusts in Europe“ in Acta Univ. Carolinae ser. geol. Praha (1968) 1/2 S.1-19) geht hervor, dass der Äquator in der Zeit von vor 500-345 Mio. Jahren in der Nähe von Spitzbergen verlief. Danach, vom Oberkarbon bis Mitte Tertiär, also von 320 bis 26 Mio. Jahren vor unserer Zeit lag er dort, wo ihn auch Anne M. in der Trance sah. Nur zur Zeit des Trias, zwischen 225 und 195 Mio. Jahren, wich er davon ab und verlief ähnlich wie heute und wie er dies seit 26 Mio. Jahren tut.
Abb.: Positions of the equator from Cambrian to Neogen
aus: M.Kužwart & J.Konta, Kaoli & laterite weathering crusts in Europe, Acta Univ. Caroliae, ser.geol.Praha, 1968, 1/2 S. 1-19
Demnach verlief der Äquator während etwa 264 Mio. Jahren dort, wo ihn Anne beschreibt und nur etwa 56 Mio. Jahre lang so wie heute. Was Anne sah, ist also alles andere als ein Hirngespinst, sondern für die Erde während 264 Mio. Jahren Realität.
Nachdem ich Annes Bericht hatte, dauerte es über ein Jahr, bis ich das hier abgebildete Diagramm fand. Die Quelle – eine geologische Fachzeitschrift aus Prag – zeigt, dass diese Information keinesfalls leicht zugänglich ist, also auch Anne – die sich im Übrigen nie mit Geologie beschäftigt hatte – nicht bekannt sein konnte.
Haben wir uns erst einmal angefreundet mit der Möglichkeit, dass Äquator und Erdachse sich in Bezug zur Erdoberfläche verändern, erwartet uns bereits eine weitere Ungeheuerlichkeit: die Veränderung der Achsneigung in Bezug auf die Sonne.
Heute liegt die Erdachse um 23° geneigt zur Ebene der Umlaufbahn um die Sonne. Im Sommer zeigt der Nordpol etwas in Richtung Sonne, so dass die Tage dort länger und die Nachte kürzer sind. Im Winter ist die nördliche Halbkugel von der Sonne abgewandt. Diese Neigung der Erdachse beschert uns also die Jahreszeiten. Stünde die Erdachse senkrecht zur Umlaufbahn, währen die Tage das ganze Jahr gleich lang, es gäbe keine Temperaturveränderungen im Laufe eines Jahres. Die Polkappen würden nie erwärmt, das Eis könnte sich sehr lange halten und würde sich stark ausdehnen. Eine solcherart veränderte Stellung der Erdachse könnte auch die starke Ausdehnung des Eises während der Eiszeit erklären. Als sich das Eis vor 10-12.000 Jahren schließlich zurückzog, starben viele Tierarten aus. Paläontologen vermuten, dass die plötzlich verstärkt fühlbaren Jahreszeiten die Ursache für ihr Aussterben war. (H.B. Slaughter, „Animal Ranges as a Clue to Extinction“ in „Pleistocene Extincitions“ P. S. Martin & H. E. Wright eds. Yale Univ. Press, 1967) Das hiesse, dass die Erdachse vor nur einigen Tausend Jahren ihre Neigung dramatisch veränderte.
Je stärker die Achse geneigt ist, umso fühlbarer sind die Jahreszeiten, aber umso ausgeglichener ist die Wärmeverteilung im Verlauf des ganzen Jahres. Bei einer Achsneigung von 54° empfängt jeder Punkt auf der Erde im Verlauf eines Jahres gleichviel Sonnenwärme – nirgends auf der Erde könnten sich Eiskappen bilden.
(nach Imbrie und Palmer „Eiszeiten“, Düsseldorf 1981, S.127)
Jeder Planet unseres Sonnensystems zeigt eine andere Neigung seines Äquators zur Ebene seiner Umlaufbahn um die Sonne, es gibt also keine Regeln, wie schräg die Achse sein sollte. Merkur, Venus und Jupiter stehen fast senkrecht auf ihrer Bahn; Uranus liegt dagegen fast waagrecht auf seiner Umlaufebene (98° Neigung seines Äquators zur Bahnebene). Dadurch wird seine nördliche Hemisphäre im Sommer Tag und Nacht beschienen. Gäbe es dort Vegetation, würde sie verbrennen – im Winter bleibt sie dagegen einige Monate im Dunkeln und alles würde gefrieren. Am Uranus-Äquator steht im Frühling und Herbst die Sonne senkrecht am Himmel.
Die Jahreszeiten, bedingt durch die heutige Neigung der Erdachse von 23°
Beispiel Uranus mit seiner Neigung zur Umlaufebene 98°
Auf dem Uranus von dessen Äquator aus betrachtet senkt sich die Sonne im Sommer und Winter weit hinab zum südlichen oder nördlichen Horizont.
Nach Annes Angaben läge Berlin, nach der Begegnung mit dem Kometen nahe dem Äquator; ich bat Christiane, als sie die Stadt in der Zeit danach beschrieb, den Sonnenlauf zu verfolgen, so wie er von Berlin aus gesehen würde. Erwartet hatte ich, dass dort die Sonne fast senkrecht stehen würde, so wie ich es vom irdischen Äquator kenne.
Christiane:
„Sie steht in Richtung Nord-Ost. Aber wie ich schon vorhin sagte, die Strahlen sehe ich irgendwie nicht, sondern nur die Helligkeit, dass die Erde hell wird. Sie steht tief, wie kurz bevor sie untergeht, ist aber trotzdem ganz weiß und hell, nicht so rot, wie bei uns jetzt.“
– Wenn die Zeit am Tag fortschreitet, kannst Du ihre Bewegungsrichtung verfolgen? Steigt sie auf, oder sinkt sie?
„Ich hab das Gefühl, sie bleibt stehen.“
– Wenn du es noch mal versuchst, wenn du in zwei Stunden wieder hinschauen würdest, wo wäre sie dann?
„Dann würde sie sich noch weiter nach Osten bewegen.“
– Von Norden nach Osten?
„Ja.“
– Untergehen oder aufsteigen?
„Ich hab das Gefühl, sie bleibt auf der gleichen Ebene.“
– Und wenn es Abend wird, wo ist sie dann angekommen?
„Sie ist jetzt direkt im Osten, aber sie ist immer noch an.“
– Geht nicht unter?
„Geht nicht unter.“
– Du hast das Gefühl, es gibt keine Nacht?
„Ja, mindestens, was die Sonne betrifft.“
Dies erinnert an die Unverrückbarkeit des Polarsterns. Dieser Stern „bewegt“ sich deshalb nicht, weil die Achse der Erde heute genau auf ihn zeigt.
Theoretisch ist so etwas auch bei der Sonne möglich; wenn nämlich die Erde, nicht wie wir es gewohnt sind den Äquator der Sonne zuneigt, sondern einen ihrer Pole. Dann erschiene jenen, die nahe am Äquator lebten, die Sonne knapp über dem Horizont und unverrückbar wie ein Polarstern und sie wäre Tag und Nacht zu sehen. Letzteres gilt aber nur für die Extrempositionen in Sommer und Winter.
Die hier angenommene Konstellation erklärt auch die übrigen Berichte über den Sonnenlauf:
„Es stimmt etwas nicht mehr mit Tag und Nacht.
Ich hab das Gefühl, als würde es nie richtig dunkel.“ (Anne2)
„Das Merkwürdige war, dass es da zwei Sonnen gab, die aneinander vorbeigingen. Sie standen tiefer als heute von hier aus gesehen. Winter gab es nicht, es regnete, aber keinen Schnee. Es gab keine Jahreszeiten. Du kannst säen und ernten zur selben Zeit.“ (Karin)
„Mit dem Mond stimmt auch etwas nicht: Der Mond wird nie richtig voll, immer ist er halb, ich sehe immer grad mal die Sichel. Sein Rhythmus ist gestört. Ich sehe es von der Erde aus.“ (Anne 2)
Mondumlaufbahn und Erde in heutiger Achsneigung.
Seine Bahnebene liegt schräg zur Äquatorebene der Erde. Die außen herum gezeichneten Monde illustrieren, wie er in den verschiedenen Stellungen von der Erde aus gesehen wird – nämlich als Vollmond, Halbmond und Sichel – obwohl er immer auf die gleiche Weise von der Sonne zur Hälfte angestrahlt wird.
Das zweite Bild belässt den Mond in seiner heutigen Umlaufbahn, doch die Erdachse ist nun (im Sommer) direkt auf die Sonne gerichtet.
Die außen herum gezeichneten Monde illustrieren, wie er in den verschiedenen Stellungen von der Erde aus gesehen wird.
Für eine Betrachterin auf der nördlichen Erdhalbkugel wird es nun nie richtig dunkel, sie sieht den Mond „nie richtig voll, immer ist er halb“, sie sieht „gerade mal die Sichel“. (Anne 2) Im Winter allerdings, wenn sie sich auf der dunklen Seite befindet, würde sie ihn nur als Vollmond und fast Vollmond sehen.
So bestätigen die Beobachtungen von Anne 2, jene von Christiane und Anne M., Karin und Gabi. All diese Berichte über den neuen Äquator, Sonnenstände, Tagessonnenlauf, Jahreszeiten und dem neuen Mondanblick passen zusammen und ergeben – so grotesk die einzelnen Beobachtungen anmuten – zusammen ein schlüssiges Modell.
Dieses Modell zu finden, bereitete mir großes Kopfzerbrechen und schließlich große Genugtuung. Entwickelt hatte ich dieses Modell erst nach Abschluss der Versuche. Zur Zeit als ich die Versuchspersonen befragte, war ich selbst noch völlig im „heutigen Weltbild“ befangen. Ich konnte mir zwar vorstellen, das sich die Erdachse in Bezug zur Erdoberfläche verschiebt, aber nicht, dass sie ihre Richtung zur Sonne ändern könnte. Die Beschreibungen der Versuchspersonen hörte ich mit einigem Stirnrunzeln an. Als Karin berichtete, sie sehe die Sonne niedriger stehen als heute, es gäbe aber „keine solchen Jahreszeiten“, widersprach ich ihr sogar und meinte: „das geht aber nicht, weil wenn die Sonne niedriger steht, heißt das nur, du wohnst mehr gegen die Pole hin, dann hast du aber auch Sommer und Winter“.
Auch Christiane konnte trotz meiner drängenden Fragen, ihr Bild nicht meinen Erwartungen anpassen. Was sie berichtete widersprach unserer beider Vorstellung. Wie ich finde, ein gutes Beispiel dafür, wie wenig diese Bilder der Zukunft von unserem Verstand oder unseren Erwartungen beeinflusst war. Erwartungen beeinflusst waren.
Wie sieht das mit Flutwellen aus wenn sich die Achse verschiebt. Wird sich nicht dann auch die Lage der Meere verändern und es entstehen andere Länderkonturen?
danke hat mir sehr geholfen